Viktor Frankl - 10 Thesen
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Die 10 Thesen Viktor Frankls über die Person: Das Fundament der Logotherapie

Die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl ist nicht nur eine Therapieform, sondern auch eine tiefgreifende anthropologische Sichtweise auf das Wesen des Menschen. Die von Frankl formulierten zehn Thesen über die Person stellen das theoretische Fundament seines Ansatzes dar und beleuchten die einzigartige Stellung des Menschen als geistiges, freies und sinnorientiertes Wesen. Im Folgenden werde ich die zehn Thesen näher erläutern, um ihre Bedeutung für meine logotherapeutische Praxis und mein Verständnis der menschlichen Existenz aufzuzeigen.

1. Die Person ist ein Individuum: Einheit und Unteilbarkeit

Frankl beschreibt die Person als „Individuum“ im ursprünglichen Sinne des Wortes: etwas Unteilbares. Sie lässt sich nicht in Einzelteile zerlegen oder fragmentieren, da sie eine Einheit bildet. Dieses Verständnis hebt sich von reduktionistischen Ansätzen ab, die den Menschen ausschließlich in psychologische, biologische oder soziale Komponenten zerlegen.

Die Person ist mehr als die Summe ihrer Teile – sie ist ein ganzheitliches Wesen, das nur als Einheit verstanden werden kann.

2. Die Person ist unteilbar und unverschmelzbar

Neben der Unteilbarkeit ist die Person auch „in-summabile“, also nicht verschmelzbar. Sie kann sich nicht in einem Kollektiv oder einer anderen Instanz auflösen. Jede Person bleibt eigenständig und einzigartig, selbst in Beziehungen oder sozialen Kontexten. Dies betont die Ganzheit des Menschen, die weder zerlegt noch mit anderen verschmolzen werden kann.

Diese Perspektive unterstreicht die Autonomie und Integrität der menschlichen Existenz.

3. Die Person ist ein absolutes Novum

Jede Person ist einzigartig und unvergleichlich. Mit jedem Menschen, der geboren wird, entsteht etwas völlig Neues, das zuvor nicht existiert hat. Diese Einzigartigkeit macht jeden Menschen wertvoll und unwiederholbar. Frankl betonte, dass der Mensch nicht nur als Teil der Evolution zu sehen ist, sondern als ein Ereignis, das einen neuen Beitrag zur Welt leistet.

4. Die Person ist geistig

Die geistige Dimension unterscheidet den Menschen von seinem psychophysischen Organismus. Während Körper und Psyche des Menschen biologischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten folgen, ist der Geist frei und unabhängig. Diese Freiheit zeigt sich besonders in der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, Sinn zu suchen und sich über biologische und psychologische Triebe zu erheben.

Das Geistige stellt den Kern der Person dar und ist der Ausgangspunkt für ihre Autonomie und Sinnorientierung.

5. Die Person ist existentiell und nicht faktisch

Der Mensch ist kein rein faktisches Wesen, sondern existiert als Möglichkeit. Diese Möglichkeit verlangt eine Entscheidung: Der Mensch kann sich für oder gegen seine Möglichkeiten entscheiden. Diese Sichtweise hebt den Menschen aus rein deterministischen Weltanschauungen heraus und beschreibt ihn als Akteur seines Lebens.

Der Mensch ist nicht, er wird. Er ist nicht das, was er ist, sondern das, wofür er sich entscheidet.

6. Die Person ist ichhaft, nicht eshaft

Die Person ist nicht durch das „Es“ (im Sinne triebhafter oder unbewusster Kräfte) determiniert, sondern durch ihr „Ich“. Das Ich steht für die Fähigkeit des Menschen, bewusst Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Dies unterscheidet den Menschen grundlegend von rein triebgesteuerten Wesen.

7. Die Person stiftet Einheit und Ganzheit

Die Person ist nicht nur Einheit und Ganzheit, sondern stiftet diese auch. Sie schafft eine Verbindung zwischen Körper, Psyche und Geist und bildet so die Grundlage für das Wesen Mensch. Frankl betont, dass der Mensch durch sein Bewusstsein und seine Verantwortung diese Einheit aktiv gestalten kann.

8. Die Person ist dynamisch

Die Dynamik der Person zeigt sich in ihrer Fähigkeit, sich vom Körperlichen und Psychischen zu distanzieren. Diese Selbsttranszendenz ist ein zentraler Begriff in Frankls Werk: Der Mensch kann sich über seine Umstände und Begrenzungen erheben und das Geistige zum Ausdruck bringen. Diese Dynamik macht den Menschen zu einem aktiven Gestalter seines Lebens.

9. Das Tier hat eine Umwelt, der Mensch eine Welt

Frankl betonte, dass der Mensch sich durch seine Fähigkeit zur Selbsttranszendenz von Tieren unterscheidet. Während das Tier nur eine Umwelt hat, die es wahrnimmt, hat der Mensch eine Welt, die er aktiv gestalten kann. Diese Welt umfasst Werte, Sinn und Transzendenz – Aspekte, die über bloßes Überleben hinausgehen.

10. Die Person begreift sich von der Transzendenz her

Die höchste Dimension des Menschseins liegt in der Transzendenz. Frankl beschreibt, dass der Mensch nur im Verhältnis zur Transzendenz – sei es durch Religion, Spiritualität oder ein übergeordnetes Sinnverständnis – seine volle Personhaftigkeit verwirklichen kann. Die Stimme des Gewissens sieht Frankl als einen Ausdruck dieser Transzendenz, die den Menschen zum Höheren ruft.

Bedeutung für die logotherapeutische Praxis

Die zehn Thesen Frankls bieten ein tiefes Verständnis für das Wesen des Menschen und bilden die Grundlage für die therapeutische Arbeit der Logotherapie. Sie erinnern daran, dass der Mensch:

  1. Ein freies und sinnorientiertes Wesen ist.
  2. Verantwortung für seine Entscheidungen trägt.
  3. Eine einzigartige, nicht wiederholbare Persönlichkeit ist.

In der Praxis bedeutet dies, dass der Therapeut nicht nur auf Symptome schaut, sondern die geistige Dimension des Patienten einbezieht, um Sinn und Werte in dessen Leben zu entdecken und zu fördern.

Viktor Frankls zehn Thesen über die Person sind ein kraftvolles Manifest der menschlichen Freiheit, Autonomie und Sinnorientierung. Sie heben den Menschen als einzigartiges und transzendentes Wesen hervor und bilden das Fundament für eine Therapieform, die nicht nur Leiden lindert, sondern den Menschen in seiner Ganzheit und Würde sieht.


Bild: https://smashingtimes.ie/human-rights-stories/human-rights-activists/viktor-frankl/

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